Wann ist ein musikalisches Kind ein Wunderkind? (Aug. 2022)

Wenn das Instrumentalspiel eines Kindes unter zehn Jahren das gleiche, hohe Niveau erreicht wie das von erwachsenen professionellen Musizierenden, spricht man von einem Wunderkind (nach einer verbreiteten Definition von Feldman aus dem Jahr 1993). Dies bedeutet, dass man anhand von Aufnahmen nicht entscheiden kann, ob international anerkannte Wunderkinder oder professionelle erwachsene Musiker*innen spielen. Aber stimmt das wirklich? Die vorliegende Studie kann diese Annahme so nicht bestätigen und als Folge dessen muss diese Definition eines Wunderkindes gründlich hinterfragt werden.

Bereits 2017 wurde eine solche Untersuchung vom kanadischen Musikforscher Gilles Comeau durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass besonders Pianist*innen und andere Musiker*innen zuordnen konnten, ob ein Hörbeispiel von einem Wunderkind oder einem professionellen Erwachsenen gespielt wurde. Die Studie lieferte somit eine vorläufige Evidenz dafür, dass die oben genannte Definition von Feldman empirisch nicht so wasserfest ist, wie man es sich wünschen würde. Leider wies die Studie von Comeau und Kollegen einige methodische Mängel auf: Die Länge der insgesamt 165 Hörbeispiele variierte stark, die Qualität war teilweise schlecht (weil von YouTube entnommen) und die Klangqualität von Beispielen besserer Qualität (i. A. die professionellen Aufnahmen der erwachsenen Musizierenden) wurde technisch herabgesetzt, um kein Indiz im Vergleich mit Aufnahmen schlechterer Qualität zu liefern. Auch wurden Wunderkinder von heute mit Profis von vor 100 Jahren verglichen – ein unsauberer Vergleich, wenn man bedenkt, dass schon heutige Studienanfänger*innen auf einem höheren Niveau spielen als professionell Musizierende vor 100 Jahren.

Die Arbeitsgruppe um den Musikpsychologen Prof. Dr. Reinhard Kopiez an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover nahm diese Defizite zum Anlass, eine Replikation der Untersuchung durchzuführen. Die Auswahl der Hörbeispiele wurde sorgfältig vorgenommen: Es wurden lediglich Aufnahmen hoher Qualität verwendet, nicht nur von den Profis, sondern auch von den Wunderkindern. Es wurden nur Wunderkinder und Profis der letzten Jahrzehnte in Erwägung gezogen, wobei der Altersunterschied nicht mehr als 30 Jahre betrug. Außerdem wählten Klavier-Expert*innen Passagen von ca. 30 Sekunden Länge aus, welche genügend Potential hatten, die technischen Fähigkeiten und den musikalischen Ausdruck der Musizierenden zu zeigen. Hieraus ergaben sich fünf Ausschnitte aus Stücken von Beethoven, Chopin und Mozart, gespielt von den prominenten pianistischen Wunderkindern Helen Huang und Umi Garrett sowie von den erwachsenen Profis Valentina Lisitsa, Ian Parker und Sebastian Forster (jeder der fünf Ausschnitte lag somit in zwei Versionen vor, gespielt von einem Wunderkind und von einem Profi).

In einer Online-Studie wurden den Teilnehmenden nacheinander einzeln alle zehn Hörbeispiele präsentiert und jeweils gefragt: Wurde das Hörbeispiel von einem Wunderkind oder einem*r professionellen erwachsenen Musiker*in gespielt? Ein direkter Vergleich der beiden Versionen desselben Stücks war dabei nicht möglich. Zusätzlich wurde erhoben, ob die Teilnehmenden Klavier spielen (und auf welchem Niveau) und wie musikalisch erfahren sie sind. Auch die Wiedergabelautstärke wurde durch eine neu entwickelte Prozedur kontrolliert. Durch ein kurzes Quiz zum Klavierrepertoire wurde bestimmt, ob die Urteilenden Titel und Komponisten der verwendeten Stücke kennen.

Insgesamt konnten gültige Daten von 278 Teilnehmenden ausgewertet werden, darunter waren 33 professionelle Pianist*innen und 30 weitere professionelle Musiker*innen anderer Instrumente. Insgesamt wurden 53,7% der Hörbeispiele richtig zugeordnet – die Hörbeispiele der Profis als von Profis und die der Wunderkinder als von Wunderkindern gespielt. Dabei schien es etwas schwieriger zu sein, die Wunderkinder-Hörbeispiele als solche zu erkennen: Diese Zuordnung gelang nur in durchschnittlich 51,0% der Fälle (wobei 50% ja genau Rateniveau ist), wohingegen Profi-Hörbeispiele etwas häufiger als solche erkannt wurden (durchschnittlich in 56,4% der Fälle). Am besten gelang die korrekte Zuordnung beim langsamen Satz aus Beethovens „Mondscheinsonate“ (Wunderkinder: 62,2%, Profis: 67,3%). Das Maß für die gesamte Zuordnungsleistung der Proband*innen (bestimmt durch die Sensitivität d‘ = 0,20) lieferte ebenfalls den Hinweis, dass die Teilnehmenden die Hörbeispiele knapp überzufällig richtig zuordneten (das Rateniveau wäre hier d‘ = 0). Die Unterteilung der Teilnehmenden in Musiker*innen und Nicht-Musiker*innen lieferte – im Gegensatz zur Studie von Comeau und Kollegen – keinen Hinweis darauf, dass Musiker*innen die Hörbeispiele besser zuordnen können als die nicht-musizierenden Teilnehmenden. Auch konnte kein Zusammenhang zwischen der Fähigkeit der Zuordnung der Hörbeispiele und der musikalischen Erfahrenheit der Teilnehmenden festgestellt werden.

Wie bereits bei Comeau und Kollegen liefert die vorliegende Studie eine weitere Evidenz dafür, dass die Definition eines Wunderkindes so nicht zutreffend sein kann: Entweder sind die beiden in dieser Studie verwendeten Wunderkinder in Wirklichkeit keine solchen (obwohl ja international als solche anerkannt), da sich ihr Spiel doch noch von erwachsenen Profis unterscheiden lässt. Oder die Definition eines Wunderkindes bedarf der Überarbeitung, um mehr Spielraum zuzulassen. Hierfür sollten vielleicht andere Kriterien verwendet werden: der Stand der Spieltechnik, der musikalische Ausdruck, oder der Entwicklungsstand wären ergänzend geeignet. Auch die Altersschwelle, bis zu der eine gewisse Leistung erreicht werden muss, um als Wunderkind zu gelten, benötigt weitere Diskussionen: Feldman schlug dafür ein Alter von zehn Jahren vor, die Wunderkinder der vorliegenden Studie waren zum Zeitpunkt der Aufnahmen 12 Jahre alt. Wären sie zwei Jahre jünger, müsste der Unterschied zu den Profis noch größer sein – eine weitere Begründung dafür, dass die Definition einer empirischen Überprüfung nicht standhält. Ab welchem Alter ist aber das Spiel eines Wunderkinds tatsächlich nicht mehr von dem eines Profis zu unterscheiden? Dies könnte die Leitfrage sein für die Entwicklung und Formulierung einer neuen Definition eines musikalischen Wunderkinds, die auch einer empirischen Überprüfung standhält. Möglicherweise sind dafür langsame Stücke besonders gut geeignet, da bei diesen die Fähigkeit zur ausdrucksvollen Gestaltung besonders gefordert ist.

Die vollständige Beschreibung der vorgestellten Studie von V. Pausch, N. Düvel und R. Kopiez wurde im August 2022 im Fachjournal Music Perception publiziert. Das Paper ist kostenfrei zugänglich unter https://doi.org/10.1525/MP.2022.40.1.39.

Kontakt: Prof. Dr. Reinhard Kopiez (reinhard.kopiez@hmtm-hannover.de).

 

Zuletzt bearbeitet: 05.09.2022

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